Mein Blog „Herztöne“ macht interdisziplinäres Arbeiten sicht- und erlebbar. Weitere Geschichten finden Sie auf Facebook.

Heimat

Herztöne - Kurze Geschichten zum Innehalten #6

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Heimat steckt in vielen Dingen. Und immer im Detail. Er liebt alle Spiderman-Filme, der junge Mann, der auf dem Weg zum Profiboxer war. "I ́m dying“, sagt er kurz und knapp und treffend und offen und echt. Unsere Begegnungen in englischer Sprache finden ohne Musik statt. "Enjoy the silence", sagt er in Anlehnung an den wunderbaren Depeche Mode Song und grinst. Es wird so etwas wie unser geflügeltes Wort. Wir sitzen und reden und schweigen und teilen Stille gemeinsam. "Where is your guitar?" fragt er eines Tages in die Stille hinein. Ich hole sie und zupfe behutsam ein paar Töne. Ob ich ihm ein deutsches Wiegenlied vorsingen könne, fragt er mich. A german lullaby? Kann ich. Auch, wenn mich sein Wunsch verwundert, ist doch "die deutsche Musik" seiner Kultur mehr als fremd. "Der Mond ist aufgegangen" singe ich. "Perfect", sagt er. "You and your song made me feel safe" sagt er. Heimat ist ein Gefühl. Es steckt in vielen Dingen. Es steckt immer im Detail. Und ganz sicher immer, immer, immer in Musik. Habt ein ganz schönes Wochenende mit Stille und Klängen und Pausen und Aktionen, wann ihr sie braucht. Und immer mit einem Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Heimat.

Das Problem mit der Statik

Herztöne - Kurze Geschichten zum Innehalten #5

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"Ach, Musik", sagt er. Vorsichtig lehne ich meine Gitarre an die Wand und sorge behutsam für ein stimmiges akustisches Milieu - konkret hier: Ruhe, Stille. Erstens, weil keine professionell ausgebildete Musiktherapeutin der Welt (die männlichen Kollegen verstehen sich bitte ebenfalls gemeint) und niemand, der verantwortungsvoll mit dem Medium umgeht, irgendwie, irgendwo und sofort und einfach so drauflosklampft oder gongt und zweitens, weil jede professionell ausgebildete Musiktherapeutin und jeder, der verantwortungsvoll mit dem Medium umgeht, weiß, dass Klänge bei Menschen mit Glioblastom (Hirntumor) die Krampfanfallneigung verstärken können. Er nestelt an seiner Decke, seine kraftvollen Hände arbeiten in der Luft. In unsere klangvolle Stille hinein stellt er, der engagierte Bauingenieur, fest: "Der Hohlraum hat innen zu viel Druck". "Ich vermute, das ist auf Dauer nicht gut, wenn der Hohlraum innen zu viel Druck hat", sage ich. "Das kannste laut sagen", sagt er. "Da kriegste Probleme mit der gesamten Statik." "Was machen wir nun?", frage ich. "Drüber reden", sagt er. Und dann erzählt er: in klaren Worten und deutlichen Sätzen von den Plänen, die er noch hatte.
Davon, wie in ihn der Krebs in Nullkommanix von den Füssen gewischt hat. Ihn, den Mathematiker und Macher. Der nun redet, um die Statik zu halten und den Druck auszugleichen. Seine Stimme wird leiser, seine Hände ruhiger. Vorsichtig nehme ich die Gitarre und spiele leise, klare, stützende Akkorde. Für die Statik. Er schläft entspannt ein, mit ruhiger, gleichmäßiger Atmung. -x- Unser Gehirn versteht Musik ähnlich wie Sprache - nämlich als Bedeutung tragende Signale. Mögt ihr Signale wahrnehmen und erleben, verbale, wie nonverbale, mögt ihr den Sinn hören, hinter dem, was Menschen Euch sagen oder zeigen - seien sie 'vermeintlich' noch so verwirrt. Alles hat Sinn. Stille und Klang. Worte und Musik. Gebt ihnen Raum und gebt ihnen Sinn. Für die Statik. 

Die Knödel Polka

Herztöne - Kurze Geschichten zum Innehalten #4

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‚Kannst Du Knödel kochen - frag ich mich seit Wochen
So, wie einst die Mutter - hat gekocht mit Butter
Schön locker, zart und fein - Und bitte nicht zu klein
Dann sollst Du fürs Leben - Meine Knödelköchin sein‘

Sie sitzt auf ihrem Rollator in der Hospizküche und schnuppert in die Luft. All die Düfte, Gerüche, Leckereien - in der Vorweihnachtszeit scheinen Sie noch intensiver. Ich freue mich an ihrem Genuss, des intensiven Erlebens des Augenblicks, als sie der Küchenfee bei der Zubereitung des Mittagessens zusieht. Der Duft von aromatisch angebratenem Fleisch und frischen Kräutern vermischt sich mit dem des „auf die Schnelle“ gezauberten Kuchens im Ofen. Eine intensive Atmosphäre, die es zu erschmecken gilt. Sie erzählt - von der deftigen böhmischen Küche ihrer Heimat, vom Lieblingsessen aus Kindertagen und auch von den Entbehrungen der Kriegs-und Nachkriegsjahre. Kaum vorstellbar für uns, wie es sich anfühlen muss, Hunger zu leiden. Sie schnuppert erneut in die Luft. Manchmal kaum vorstellbar für uns - wie bedeutsam Atmosphäre ist. Sie lächelt verträumt, manchmal auch etwas verschmitzt. Mir fällt Musik aus ihrer Heimat ein: die Ernst-Mosch-Polka „Kannst Du Knödel kochen“. Ich schnappe mir die Gitarre, setze mich wieder auf den Klapphocker und singe „unser“ Küchenlied. Klänge, Lachen und Tränen ergänzen Geschichten und Düfte. Manchmal im Alltagstrott kaum vorstellbar für uns - wie bedeutsam Atmosphäre ist. Sie erinnert ihre Lieder, Heimatlieder. Tief drin im Böhmerwald und die Rauschenden Birken wünscht sie sich von mir.

'Ich weiß im Böhmerwald ein grünes Tal - Wie gern, wie gern wär ich, dort noch einmal
Blumen blühten überall, wohin man auch sah,  - Doch ein Bild vergess ich nie - Es ist mir so nah'

Manchmal kaum vorstellbar, wieviel Atmosphäre in einem einzigen Lied stecken kann. In der Woche darauf finden wir uns an ihrem Bett wieder. Der Sohn, die Tochter, die Musik und ich. „Da sitzt sie einfach mit der Gitarre auf dem Hocker und singt diese Heimatlieder für mich“ habe die Mama noch gesagt. Und nun stirbt sie. So schnell. In die Atmosphäre voll Schmerz und Trauer mischt sich Lachen - als Sohn und Tochter auf meine Frage hin bemerken, dass ihre „Heimatlieder“ eher die Songs von Rammstein sind. Manchmal kaum vorstellbar für uns - dass Kleinigkeiten und vermeintliche Banalitäten für so viel Atmosphäre sorgen. Klänge, Lachen und Tränen sorgen für Echtheit, sie sorgen fürs Leben. Unter den Songs von Rammstein und Ernst Mosch kann sie gehen. Sie lässt uns zurück voller Erinnerungen an intensiv gelebte Momente.

Wenn Hüllen fallen

Herztöne - Kurze Geschichten zum Innehalten #3

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Sie hat viel erlebt als kleines Mädchen in den letzten Kriegstagen - "und überhaupt", sagt sie. Sie hat sich im Leben viele unsichtbare Masken gefertigt und aufgesetzt "wegen der anderen - und überhaupt - weil`s besser ist". Masken sind wichtig. Sie geben Schutz und Sicherheit in unbekannten und unsicheren Momenten. In unserer ersten Begegnung beschenkt sie mich mit all diesen Masken und Facetten und Rollen und all dem, was sie sein kann. Wie in einem Film kann und darf ich ihr zuschauen, wie eine Maske ab und eine andere aufgesetzt wird. Ich kreiere eine Musik dazu. Maskenball. In unserer zweiten Begegnung erinnert sie Lieder aus Zeiten, in denen sie schutzlos und ohne Maske unterwegs war. Und sie beschenkt mich mit diesen nackten, intimen Momenten zur Musik ihres Lebens. Behutsam schaffe ich Übergänge in der Musik, die ihr helfen, schnell die Masken wiederzufinden, wenn sie sie braucht- z.B. wenn eine Bekannte anruft oder die Tür trotz des "Bitte nicht stören"-Schildes geöffnet wird, weil jemand schnell eine Zeitschrift vorbeibringen möchte. In der Musik hat alles Platz - Musik erlaubt, Masken ab- und anzulegen. In unserer dritten und letzten Begegnung ist ihre Tochter da, die ich zum ersten Mal treffe. Und der Raum füllt sich unter drei Frauen mit ihren eigenen Lebensgeschichten prall und wunderbar mit gemeinsamen Klängen und echten Gefühlen und anprobierten Masken und vertauschten Rollen. Sie lehnt ihre Stirn an meine und gibt mir einen langen Eskimokuss: "Simone", sagt sie, "weißt Bescheid, gell?!" Ja, ich weiß Bescheid. Ich weiß Bescheid, dass ich mit der Musik das mächtigste Medium unter dem Himmel mit mir herumtrage, das in der Lage ist, gleichzeitig Hüllen fallen, Neues entstehen zu lassen, für Sicherheit und Geborgenheit zu sorgen - und überhaupt. Und Dank ihr werde ich mich jeden Tag aufs Neue daran erinnern. Sehnsucht heißt ein altes Lied der Taiga 

Die Posaune

Herztöne - Kurze Geschichten zum Innehalten #2

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Ihm laufen die Tränen, als ich mich und meine Arbeit vorstelle. Viele Momente der letzten Wochen, in denen er sich zusammengenommen hat, brechen sich Bahn, wollen nach Außen und mit ihnen Emotionen und Wünsche der Kindheit, die in den Nachkriegsjahren voll waren von Entbehrungen. Vor 2 Jahren hat er sich einen Kindheitstraum erfüllt: gemeinsam mit seinem Enkel hat er begonnen, ein Instrument zu lernen. Posaune. Mit Jugendlichen als Opa auf der Musikerfreizeit - weil er, wie die anderen 13jährigen - ja auch ein "Jungbläser" ist. Gemeinsam mit seinem Enkel auf der Bühne zu stehen - seine Stimme platzt vor Glück und Stolz. Dann die Diagnose Lungenkrebs. Und die Aussage eines Arztes, er dürfe nie wieder auch nur ein einziges Mal in die Posaune blasen. Nach der Chemo hat sich der Tumor verkleinert, die Metastasen in seinem Körper jedoch schließen eine Heilung aus. Gemeinsam mit der Pflege und dem Oberarzt der Palliativstation kann ich ihm und dem Enkel sagen: schnappt Euch die Posaunen und los! Die Musik besitzt den Zauber, Gefühle und funktionale Wirkungen perfekt zu vereinen. Ein besseres Training gegen Dyspnoe und mögliche Luftnotattacken kann es nicht geben als der Einsatz eines Blasinstrumentes. Und ein stärkeres Band kann es nicht geben als die gemeinsame Musik von Enkel und Opa.

Die Musikbox

Herztöne - Kurze Geschichten zum Innehalten #1

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Sie hatte früher eine bekannte Kneipe im Ort. Bei ihr trafen sich alle. Wie im Schlager von Peter Alexander. Nun liegt sie schwach in ihrem Bett. „Toll, eine Kneipe“, sage ich und frage: „Mit einer Musikbox? Da hab ich als Kind so gern Songs ausgewählt“. Wie der Blitz kehrt Kraft in ihren Körper zurück. Sie schnellt wie ein Klappmesser aus dem Bett nach oben: „Jaaaa, mit den Songs von Freddy Quinn!“ ruft sie. So schön, schön war die Zeit geht es mir durch den Kopf. Ich schnappe mir die Gitarre und versuche, ihre Musikbox zu sein. Sie singt mit ungeahnt kräftiger Stimme. Die Tür geht auf, der Oberarzt möchte die Portnadel wechseln, Stationsalltag. Sie, das Klappmesser, klappt in sich zusammen. Angst habe sie jedesmal davor, Angst vor den Schmerzen, der Situation, der Auseinandersetzung mit ihrer Erkrankung. "Sie hatte eine bekannte Kneipe im Ort. Bei ihr trafen sich alle. Mit Musikbox voll Freddy-Songs", lasse ich den Oberarzt wissen. So schön, schön war die Zeit, singt der Oberarzt mit mir gemeinsam, wechselt die Portnadel und verlässt das Zimmer. Sie, das Klappmesser, schnellt erneut aus dem Bett nach oben: „Wollte er jetzt nicht die Portnadel wechseln?“ fragt sie in meinen Gesang hinein. „Hat er doch“, sage ich. „Da komm ich jetzt nicht drüber weg“, meint sie. „Worüber?“ frage ich. Darüber, dass Sie nicht gemerkt haben, dass die Nadel gewechselt wurde oder darüber, dass der Oberarzt Freddy Songs mitsingen kann?“ „Beides“, sagt sie. Lässt sich entspannt in die Kissen sinken und lacht. So schön, schön, war die Zeit.